Rückblicke

Kindheitserinnerungen

Aufschreiben! Ja, aber da muss man zuerst einmal zurückdrehen, zurücksinnen, zurückspulen und warten, ob sich wieder Bilder zeigen von damals; darum habe ich mich bisher jedoch kaum ernsthaft bemüht, weil jeder Tag mir noch Aufgaben gab, Gott sei Dank!

Und siehe, da entsteht vor meinem inneren Auge ein Bild aus früher Kindheit. Meine Mutter hat mir oft davon erzählt. Da stehe ich als Fünfjähriger auf einer "Rutsche" am Fenster unsrer Wohnung im 2. Stock Bohrauerstraße 139 in Breslau und schaue aufmerksam hinaus, ob nicht wieder ein Pferdegespann vorüber kommt, damit ich sehen kann, wie denn ein Pferdekopf aussieht, und ob meine Zeichnung stimmt; um schließlich ein voll ausgeschirrtes Pferd dann meiner Mutter zu zeigen.
Diese Liebe, zum alten Helfer des Menschen, ist mir treu geblieben. Immer wieder einmal drängte es mich, ein Pferd zu zeichnen oder zu modellieren: weidende Pferde auf der Koppel, spielerisch-übermütig, aber auch müde und alt.
Und dann eine zweites Bild: der Balkon unsrer Wohnung, es gibt noch Fotos, die unsere wachsende Familie, dort sitzend und stehend festgehalten haben, leider ist der Verschlag (Voliere) nicht zu sehen, wo unser weißes Huhn seine Wohnung hatte. Die Anklamer hatten es uns geschenkt, so machte es denn die Bahnfahrt nach Breslau mit, was ihm nicht so ganz behagte, so dass es sich ärgerlich meldete; zum Ergötzen der Mitreisenden, die es verständnisvoll belächelten im Blick auf die junge Mutter und die große Kinderschar; es war ja Krieg.

Eines Tages verhalf uns diese treue Henne, die uns viele Eier lieferte, zu einem Erlebnis, das uns in Erinnerung blieb, weil es für uns Kinder aufregend war. Dieses Huhn wollte offensichtlich etwas von der Welt sehen und schon saß es -trotz beschnittener Flügel - auf dem Geländer des Balkons. Ehe wir zugreifen konnten, schwebte es, torkelnd (beschnitte Flügel) auf die Straße hinab, auf der glücklicherweise gerade kein Verkehr war. Weil das Tier von seiner Hauchlandung etwas benommen war, blieb uns genügend Zeit, die Treppe hinunter zu sausen, um mit unsern Spielgefährten zusammen die Einfangaktion zu einem guten Ende zu bringen. Dem Tier hatte der Ausflug nicht geschadet.

Und noch etwas wird mir lebendige Erinnerung. Wann genau weiß ich nicht mehr, aber es war Sommer, vermutlich die Sommerferien im ersten Schuljahr. Ich durfte den Vater besuchen, der als Soldat in der Waffenmeisterei in Schweidnitz war. Seine Kameraden, alles auch wohl Familienväter mit Kindern in meinem Alter waren sehr freundlich zu mir, hatten schon eine Gewehrkiste bereitgestellt, die mein Bett werden sollte. Obwohl ich überall herumspazieren durfte, war es doch etwas langweilig für mich. Zum Mittagessen ging mein Vater mit mir in die Stadt, Im Esssaal ermahnte mich der Vater, nicht mit dem Besteck zu klappern, denn man müsse ganz leise essen. Und dann eines Tages beim Zurückgehen zur Kaserne, geschah etwas für mich sehr Aufregendes. Die Weißtritz, die durch die Stadt floss, musste durch ein enges gemauertes Bett, über das in relativ kurzen Abständen Stege führten, ihren Lauf nehmen, sie war dadurch, obschon nur flach, noch reißender geworden. Diese Stege waren der Lieblingsplatz der Kinder, die dort saßen, die Beine herunterbaumelnd, kleine Gegenstände, Blätter oder auch Schiffchen, hinunter warfen und beobachteten, wie das Flüsschen sie fort trug, auch wohl schnell aufsprangen, um diesen Gegenstand bei einem der nächsten Stege wieder aufzufangen; dabei war ein Kind hineingefallen, konnte nicht Fußfassen und wurde fort getragen. Mein Vater sah das und lief schnell zum nächsten Steg, um dort das Kind abzufangen, aber ein anderer, jüngerer (Soldat war noch vor diesem Steg ins flache Wasser gesprungen und hatte das Kind auf Trockene gesetzt, das sofort nach hause lief. Schade, ich hätte gern gesehen, dass mein Vater der Retter gewesen wäre.

Auch von der Heimfahrt nach diesem "Urlaub in der Kaserne" ist noch etwas in Erinnerung geblieben. Mein Vater hatte mich einem Kameraden mitgegeben, der Urlaub hatte und in Breslau umsteigen musste, dieser sollte mich zu Hause abliefern. Aber ich weiß den Grund nicht mehr, hatte der Zug Verspätung? Fürchtete er den Anschluss nicht zu bekommen? Jedenfalls fragte er mich, ob ich den Weg vom Bahnhof bis zur Bohreuerstraße kennte, als ich das bejahte, ließ er mich allein abmarschieren. Zunächst war mir das ganz recht, aber schon im Tunnel, in dem es furchtbar schallte war mir schon beklommen zumut. Die leeren Straßen, es war ja schon spät am Tage, waren auch nicht dazu angetan, mich froh zu stimmen; doch, du musst tapfer sein! Ein Glück, die Haustür war noch auf, aufs Klingeln öffnete die Mutter: Aber Junge, allein! Da kullerten die Tränen.
Das sind so Erinnerungen an die Zeit des 1. Krieges. von der Not, die viele Familien litten, besonders, wenn große Kinder da waren, haben wir nichts gespürt. Wir hatten das Huhn aus Anklam das fleißig Eier legte. Im Herbst kam eine große Kiepe mit Obst aus Brieg aus dem großelterlichen Garten, und dann war da Onkel Max, der noch unverheiratete Bruder der Mutter, Ingenieur-Offizier bei der Bahn, der in Polen war und uns sehr regelmäßig mit Eiern und Fett und anderem versorgte, so dass unsre Mutter an Familien im Haus Lebensmittelkarten weitergeben konnte. Ansonsten war der Krieg weit weg, nur ganz zuletzt waren wir Breslauer noch bangend Zuschauer eines Luftkampfes über der Stadt.
Für den Vater war der Krieg glimpflich zu Ende gegangen. An der Front erkrankt, war er zur Waffenmeisterei versetzt, im März 1919 in Schweidnitz entlassen worden. Die Folgen des Krieges aber waren auch für unsre Familie einschneidend. Es endete eine glückliche Kindheit, nur hin und wieder getrübt durch Klapse, die die temperamentvolle Mutter schnell austeilte, etwa dann, wenn wir wieder einmal das Sofa als Trampolin benutzt hatten und dabei gegen das darüber befindliche Bort gestoßen waren und dadurch die Nippesfiguren, auch die aus Schokolade hinuntergefallen waren. Natürlich wurden diese dabei oft mehr oder weniger beschädigt, was im Blick auf die Schokoladenfiguren nur recht war, konnten sie doch nun schön eingeteilt, verzehrt werden.